Weniger Elternstress, heterogene Schüler
Der Unterschied zwischen allgemeinbildenden und beruflichen Schulen 09.02.2023, 14:16
Eine Darstellung der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Schulformen. Außerdem Eindrücke einer angehenden Referendarin, die sowohl ins allgemeinbildende als auch ins berufsbildende Schulwesen hineingeschaut hat. Sie hat sich letztlich für das Referendariat an einer beruflichen Schule entschieden und erläutert ihre Gründe dafür.
Inhaltsübersicht
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Definition: Berufliche und allgemeinbildende Schulen
Wesentliche Unterschiede zwischen diesen Schulformen
Eindrücke aus der Praxis einer Lehramtsstudentin
Definition: Berufliche und allgemeinbildende Schulen
Als berufsbildende Schule bezeichnet man Schulformen, die mit einem beruflichen oder einem berufsorientierten Abschluss enden: Berufsschulen der dualen Berufsausbildung ("Lehre"), Meisterkurse, Berufskollegs, Akademien, Berufsfachschulen, aber auch Schulformen, die zum Abitur führen, z.B. Fachoberschulen oder berufliche Gymnasien unterschiedlicher Schwerpunkte (z.B. WG = Wirtschaftsgymnasium, TG = Technisches Gymnasium usw.). Die klassische "Berufsschule", wo Lehrlinge hingehen, ist also nur ein Teil des beruflichen Schulwesens. Wer eine erste Orientierung über den an Berufsschulen wehenden Wind benötigt, der kann sich Tom Sharpes »Puppenmord« durchlesen.
Als allgemeinbildende Schulen dagegen bezeichnet man die nicht berufsorientierten Schulformen wie Grundschulen, Hauptschulen (und ihre Attrappen: Realschule plus, Mittelschule, Oberschule, Werkrealschule usw.), Realschulen, Gymnasien, Gesamtschulen, Förderschulen, Abendgymnasien usw.
Im Schuljahr 2021/2022 besuchten 8,4 Millionen Schüler/innen eine allgemeinbildende Schule, 2,3 Millionen besuchten eine berufliche Schule (mehr Zahlen: Statistisches Bundesamt: Übersichtsseite »Schulen«).
Für Referendar/innen allgemeinbildender Fächer (Deutsch, Englisch, Mathematik, Physik usw.) besteht je nach Bundesland die Möglichkeit, im beruflichen Schulwesen Fuß zu fassen oder umgekehrt. In Baden-Württemberg bspw. müssen Referendar/innen, die im beruflichen Bereich ausgebildet wurden, eine zusätzliche Lehrprobe in der Sekundarstufe I absolvieren, um die Lehrberechtigung für die Sekundarstufe I und damit an allgemeinbildenden Schulen zu erhalten.
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Die wesentliche Unterschiede
Die folgenden Ausführungen zeigen Tendenzen. Vor allem die an einer berufsbildenden Schule vertretenen Schularten haben hier starken Einfluss. An Schulzentren, wo ausschließlich Berufsschulen (duales System) angesiedelt sind, wird man Eltern wesentlich seltener sehen als an solchen, wo die beruflichen Gymnasien (evtl. auch 6-jährige Gymnasien ab Klasse 8) stark vertreten sind.
1) Die Schüler/innen
Im beruflichen Schulwesen hat man es oft mit etwas ruppigerem Klientel zu tun, vergleichbar vielleicht mit der Hauptschule - das betrifft v.a. handwerkliche Berufe an der Berufsschule und besonders berufsvorbereitende Formen (AV Dual, BVJ/BEJ, VAB/VABO usw.). Auch die Fehlquote ("schwänzen") dürfte an beruflichen Schulen ziemlich hoch liegen, was zu erhöhtem Verwaltungsaufwand führt.
- Alter der Schüler/innen
Der wesentliche Unterschied zur Hauptschule und ihren Derivaten: An beruflichen Schulen sind die Schüler/innen meist über den Höhepunkt der Pubertät hinweg - i.d.R. beginnt die Altersspanne bei 15 Jahren, die überwiegende Mehrzahl der Schüler/innen ist 16 und älter (Ausnahme: 6-jährige berufliche Gymnasien). Der disziplinarische Aspekt ist an beruflichen Schulen nicht so anstrengend wie an allgemeinbildenden - letztlich diskutiert man mit Erwachsenen, und die Beschwerde beim Ausbildungsbetrieb gilt als überaus wirksames Druckmittel. Viele Kolleg/innen an allgemeinbildenden Schulen genießen jedoch die erfrischende Arbeit mit den jüngeren Schüler/innen; diese fällt im beruflichen Schulwesen komplett weg.
- Fachlicher Anspruch
In den meisten Bundesländern wird das Lehramt an beruflichen Schulen von der gymnasialen Ausbildung bedient (häufige Ausnahmen: Technische Lehrkräfte für bspw. Kfz, Holz, Elektro). Referendar/innen aus einem gymnasial orientierten Lehramtsstudium stehen vor der Wahl zwischen dem allgemeinbildenden und beruflichen Schulwesen, sofern sie nicht (nur) Fächer des beruflichen Profils im Portfolio haben (Wirtschaft, Agrarbiologie usw.). Der Unterschied zwischen allgemeinbildenden Gymnasien und Berufsschulen ist, was den fachlichen Anspruch in allgemeinbildenden Fächern betrifft, deutlich. Auch in der gymnasialen Oberstufe dürfte das fachliche Niveau merklich unter dem an allgemeinbildenden Gymnasien liegen - obwohl das Abitur vom Anspruch her ungefähr vergleichbar ist.
Das Leistungsniveau ist in den meisten Klassen wesentlich heterogener als am allgemeinbildenden Schulwesen. In einigen Berufen (z.B. Zimmermänner, Steinmetze) mischen sich regelmäßig Abiturient/innen oder gar fertig Studierte mit Absolvent/innen der Hauptschule. Das bringt in manchen Klassen auch eine große Altersspanne mit sich. Zu den beruflichen Gymnasien (Technisches Gymnasium, Wirtschaftsgymnasium etc.) kommen viele Schüler/innen vom Hauptschulabschluss (oder wie immer er je nach Bundesland heißt) über berufsorientierte Schularten (wo bspw. in zwei Jahren die Mittlere Reife/Realschulabschluss gemacht wird).
- Schulbesuchsdauer
Eine allgemeinbildende Schule besuchen die Schüler/innen i.d.R. mehrere Jahre, am Gymnasium mindestens acht Jahre (Klassen 5 bis 12), an Haupt- und Realschulen fünf bzw. sechs Jahre (Klassen 5 bis 9 bzw. 10). An beruflichen Schulen dagegen ist die Halbwertszeit der Schülerschaft wesentlich kürzer: Lehrlinge im dualen System sind nach drei Jahren wieder weg, der Erwerb des berufsbezogenen Abiturs in der gymnasialen Oberstufe dauert zwei oder drei Jahre. Berufsvorbereitende Formen wie Fachschulen, Berufskollegs (BW) oder BVJ/VAB sind auf ein oder zwei Jahre begrenzt.
Bei der Abifeier am allgemeinbildenden Gymnasium kennt man die Schüler/innen besser; vielleicht erinnert man sich, wie ein Schüler vor fast zehn Jahren als bebrilltes, schüchternes Kindchen seine ersten Worte Englisch sprach - und nun ist aus ihm ein richtiger erwachsener Mann geworden, der in breitem texanischem Akzent vor sich hin brummt. An den meisten beruflichen Schulen werden die Lehrer/innen schon ganz sentimental, wenn sie ein/e Schüler/in länger als drei Jahre kennen. Entsprechend entstehen im beruflichen Schulwesen weniger feste soziale Strukturen.
- Pädagogische Verantwortung
Der Umgang mit Kindern und Pubertierenden bringt eine wesentlich höhere pädagogische Verantwortung mit sich als der Umgang mit jungen Erwachsenen. Vereinbarungen wie "dreimal keine Hausaufgabe = eine Sechs" können mit einem unfertigen Fünftklässler nicht einfach so durchgezogen werden - zu groß ist die pädagogische Verantwortung, die man als Lehrer/in für den Schützling übernommen hat.
2) Die Kolleg/innen
Nicht nur die Schülerschaft, auch das Kollegium weist eine etwas unterschiedliche Mentalität auf. Der Alltag an beruflichen Schulen läuft grundsätzlich sehr geerdet ab - niemand erwartet von den Fliesenlegern im 2. Lehrjahr, dass sie am Wochenende in der Bibliothek nochmal Goethes Jugend recherchieren oder die Mindmap zu "Der dreißigjährige Krieg - Eine Vorform globaler Konflikte?" fertigstellen. Und niemand ist ernstlich verwundert, wenn mal auf dem Schulhof ein/e Schüler/in beim Dealen von Gras auffliegt. An einem Elitegymnasium kann solch ein Vorfall die Gemüter erhitzen.
Die Erwartungen der beruflichen Kolleg/innen sind somit häufig sehr zielgerichtet und orientieren sich bspw. an der beruflichen Realität oder an angestrebten Abschlüssen. Während an allgemeinbildenden Schulformen oft eine hohe Dynamik herrscht, was fachlichen Anspruch oder pädagogische Neuerungen betrifft, sind viele Kolleg/innen an beruflichen Schulen eher als pragmatisch zu bezeichnen.
3) Eltern
An allgemeinbildenden Schulen sind die Eltern Teil des pädagogischen Prozesses - das betrifft vor allem Grundschulen und Gymnasien. An allgemeinbildenden Gymnasien vergeht oft keine Woche, in der ein/e Lehrer/in nicht einen Elternanruf bekommt, die Elternabende sind meistens richtig voll.
Das ist erfreulich, denn der Arbeitserfolg verbessert sich massiv, wenn Eltern und Lehrer/innen in Kontakt stehen und gemeinsam an einem Strang ziehen. Allerdings kann intensiver Elternkontakt auch zu anstrengenden Szenen führen - wenn man gemeinsam mit einem verspannten Vater die mündliche Note auf ein Hundertstel genau durchdiskutiert, während auf dem Tisch das Abendessen erkaltet.
An beruflichen Schulen integrieren sich viele Eltern nicht so sehr in den Werdegang ihrer Sprösslinge. Das wird von vielen Kolleg/innen als befreiend empfunden; es hat jedoch (wie in Hauptschulen/Werkrealschulen/…) auch eine deprimierende Dimension zu sehen, wie wenig Eltern am Werdegang ihrer Kinder partizipieren. Dies wird von vielen Lehrer/innen als um so deprimierender wahrgenommen, je jünger die Kinder sind.
4) Prüfungen
Für jeden Abschluss, der an einer Schule erreicht werden kann, gibt es i.d.R. einmal jährlich eine Prüfung. An allgemeinbildenden Schulen ist das meistens ein Prüfungstermin im Jahr (Hauptschulabschluss u.ä.; Mittlere Reife; Abitur ...), während an berufsbildenden Schulen hier mehrere Prüfungstermine anstehen. Bei einer mittelgroßen berufsbildenden Schule mit 1000 Schüler/innen finden zusätzlich zu den normalen Zeugnisterminen sechs, sieben oder mehr Prüfungen statt. Das bedeutet wesentlich mehr Stress, was Korrekturen, Aufsichten, mündliche Prüfungen, Noteneintragsfristen usw. betrifft. Allerdings sind viele Klassen in den letzten Schulwochen nicht mehr anwesend, was eine gewisse Erleichterung mit sich bringt (sofern die Schule nicht irgendein abartiges Arbeitszeitmodell beschlossen hat, in dem die ausfallenden Stunden anderweitig kompensiert werden müssen).
Der Verwaltungsaufwand ist an beruflichen Schulen wesentlich höher; Fächer wie Religion, Deutsch oder Geschichte/Politik werden an Berufsschulen in den meisten Bundesländern einstündig unterrichtet. Lehrer/innen können also bis zu 30 Klassen [sic] unterrichten und entsprechend zum Schul(halb)jahresende rund 2.000 Noten in die Notenlisten eintragen (Fachnote, Mitarbeit, Verhalten). Dafür ist die Diskussion um die Noten oft nicht so ausgeprägt (s.o. "Eltern").
5) Konferenzen
Die Konferenzfrequenz ist an vielen beruflichen Schulen deutlich niedriger als an allgemeinbildenden. Das hängt natürlich auch von der Schulleitung und der Schulsituation ab. Curriculare oder pädagogische Diskussionen verlaufen an beruflichen Schulen i.d.R. jedoch sehr übersichtlich.
6) Schulleben / Kultur
An vielen allgemeinbildenden Gymnasien herrscht ein reges kulturelles Leben: Theater-AG, Orchester, Chor, Schülerzeitung usw. An beruflichen Schulen ist dies deutlich weniger verbreitet, sofern sich nicht einzelne Lehrer/innen stark engagieren.
Eindrücke aus der Praxis einer Lehramtsstudentin
Saskia L. hat ihr Lehramtsstudium abgeschlossen und dabei Praktika sowohl an beruflichen als auch an allgemeinbildenden Schulen absolviert. Für den Lehrerfreund schildert sie ihre Eindrücke und begründet, warum sie sich für ein Referendariat im beruflichen Schulwesen entschieden hat. Danke für diese interessanten Einblicke!
»Meine Eindrücke vom beruflichen Schulwesen«
Wir fragten nach den spontanen, subjektiven Eindrücken über den Unterschied zwischen dem beruflichen und allgemeinbildenden Schulwesen.
»In den Klassen herrscht eine wesentlich höhere Heterogenität als an allgemeinbildenen Schulen. Die Schüler/innen kommen mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Bildungsniveaus, da sich im beruflichen Schulwesen unterschiedliche Bildungsgänge vereinen.
Die Tätigkeit an beruflichen Schulen ist sehr abwechslungsreich, da sich verschiedene Schultypen unter einem Dach vereinen. Es gibt ein breites Spektrum an Abschlüssen, die vom Hauptschulabschluss bis zum Abitur reichen.
Die Lehrer/innen stehen vor hohen Herausforderungen: Sie müssen ...
- ... unterschiedliche Leistungsniveaus innerhalb von kurzer Zeit auf einen gemeinsamen Nenner bringen (z.B. in der Eingangsklasse (Klasse 11) des beruflichen Gymnasiums).
- ... Gruppenzusammenhalt bzw. ein positives Arbeitsklima schaffen, da sich die Schülerinnen und Schüler, die von verschiedenen Schulen kommen, oftmals nicht kennen.
- ... die Schülerinnen und Schüler aktivieren und motivieren, da auch viele dabei sind, die diesen schulischen Weg nur gehen, weil sie keine Ausbildungsstelle bekommen haben.
Die Lehrer/innen benötigen eine ordentliche Portion Schlagfertigkeit ;-)
Von den Schülerinnen und Schülern wird mehr Eigenverantwortung und Selbstständigkeit erwartet.«
»Warum ich mich dafür entschieden habe, das Referendariat an einer beruflichen Schule zu absolvieren«
»Besonders die höhere Heterogenität der Schülerinnen und Schüler sowie das breite Spektrum an Abschlüssen, die an beruflichen Schulen angeboten werden und damit auch den Lehreralltag interessanter gestalten, interessieren mich mein Referendariat am beruflichen Schulwesen zu absolvieren. Außerdem bevorzuge ich den Umgang wie auch die Zusammenarbeit mit älteren Schülerinnen und Schülern, was ebenfalls für den beruflichen Schulzweig spricht. Betrachtet man zusätzlich den aktuellen Arbeitsmarkt, so wird ersichtlich, dass die Einstellungschancen für Berufsschullehrer momentan besser liegen als für Gymnasiallehrer. Um mir jedoch die Tür zum allgemeinbildenden Gymnasium offen zu lassen, werde ich im Referendariat noch die Zusatzausbildung für das allgemeinbildende Gymnasium beantragen.«