Pflichtfach Informatik
Programmierunterricht statt 2. Fremdsprache 26.05.2022, 20:09
Richard Socher, Kapazität auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, fordert: Unterricht in der zweiten Fremdsprache abschaffen, statt dessen eine Programmiersprache lernen. Was würde passieren, wenn wir das machen? Ein Gedankenspiel - und eine Gegenrede von Hanspeter Hauke, Lernspielentwickler und Bildungsexperte.
Die Person: Richard Socher
Richard Socher gilt aktuell als eines der dicksten Kaliber im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI / AI = Artificial Intelligence). Nach der Promotion Professur in Princeton abgelehnt, erfolgreiche Startups gegründet und einer der am häufigsten zitierten Forscher im Bereich der KI weltweit. Kurz: Er bohrt dicke Bretter, und das weiß der 38-Jährige (Jahrgang 1983) auch:
Ihre wissenschaftlichen Arbeiten wurden bereits über 100.000-mal zitiert … Was bedeutet Ihnen das?
Richard Socher: … jetzt, wo das so ist, freue ich mich sehr darüber, aber meinen Fokus habe ich seit geraumer Zeit schon auf anderes gerichtet.
Worauf?
2020 habe ich ein neues Start-up gegründet. Seitdem arbeiten mein kleines Team und ich an einem neuen Internet.
Die Forderung: Programmieren statt 2. Fremdsprache
Im Zeit-Podcast »Alles Gesagt« entwirft Socher das Bild einer Zukunft, in der IT-Systeme und Künstliche Intelligenzen an Bedeutung gewinnen - und entsprechend müsse die schulische Ausbildung reagieren:
Meine Empfehlung [an die Politik] waren: … Mehr Programmierung in den Schulen zu starten … Ab der 9. Klasse sollte man meiner Meinung nach Informatik als Pflichtfach haben, um das nicht zu verpassen. Ich glaube, Programmiersprachen sind wichtiger als eine zweite Fremdsprache. Eine erste Fremdsprache, also Englisch muss man schon können, aber danach ist wahrscheinlich Python wichtiger als noch Französisch oder Italienisch. Ich sage nicht, dass niemand Französisch oder Italienisch lernen sollte … aber wahrscheinlich nicht so viele.
Zeit-Podcast: Alles Gesagt? Richard Socher, was denken Maschinen? - ~02:11:25 (von 08:16:39)
Das klingt eben so ketzerisch wie einleuchtend. Lassen wir uns für einige Minuten auf das Gedankenspiel ein.
Gedankenspiel: Python statt Latein/Französisch …
Stellen wir uns vor, in Schulen würde grundsätzlich statt einer zweiten Fremdsprache eine Programmiersprache gelernt. Socher als KI-Person im Jahr 2022 spricht natürlich von der Programmiersprache Python, es könnte aber genau so gut Java, C# oder eine sonstige Programmiersprache sein.
Die Mittel- bzw. Realschüler/innen hätten beim Abschluss (Mittlere Reife) ungefähr 200 Stunden Programmierunterricht gehabt (2 Jahre x 3-4 Wochenstunden), die Abiturient/innen hätten mehr als 500 Stunden Programmierunterricht gehabt (4-5 Jahre x 3-4 Wochenstunden) und um die 20 Klausuren zum Thema »Programmieren« geschrieben.
Versuchen wir diese doch etwas abstrakten Zahlen etwas zu konkretisieren:
Vergleich: Bachelor-Student/in und Schüler/in mit Pflichtfach Informatik
An vielen Universitäten werden im gesamten Studium nur wenige Semester in praktischer Programmierung belegt, wovon bei den meisten Bachelor-Student/innen am Ende nicht viel hängen geblieben ist. Beispiel Universität Tübingen, Fach Informatik, Studienplan Bachelor of Science Informatik, Prüfungsordnung 2021: drei Veranstaltungen (jeweils ein Semester) Programmieren.
Es stellt sich die Frage, was genau »Informatikunterricht (Schule)« oder »Programmieren (Uni)« bedeutet. In der schulischen Praxis, wie sie sich heute darstellt, würden von den angenommenen 500 Stunden bestimmt ein großer Teil in Grundlagen, theoretische Informatik, Datenbanksysteme und natürlich pädagogische Arbeit fließen; das Tempo wäre insgesamt langsamer als an der Hochschule; im zitierten Prüfungsplan finden möglicherweise an der ein oder anderen Stelle zusätzliche Workshops oder Programmieraufgaben statt. Dennoch lässt sich sagen: Im Gedankenspiel »Informatikunterricht statt 2. Fremdsprache« würden die meisten Abiturient/innen den durchschnittlichen Bachelorstudenten programmiertechnisch klar übertrumpfen.
Alle Schüler/innen können programmieren - und dann?
Spinnen wir das weiter: Kommen die Abiturient/innen mit einer derartigen Expertise aus der Schule, würde man die Studienordnungen im Niveau entsprechend anheben und (fast noch wichtiger:) deutlich mehr diversifizieren können, als es heute der Fall ist.
Diese Entwicklung beträfe nicht nur den hochschulischen Bereich. Auch im IT-Ausbildungsmarkt könnten schon Schulabgänger/innen klar mit der Expertise der heute fertig Ausgebildeten mithalten, was - wie im akademischen Bereich - zu einer immensen Niveausteigerung in der beruflichen Ausbildung führen würde.
Weiter: Eine Gesellschaft, in der mehr oder weniger alle eine Programmiersprache beherrschen, hätte ein technisches Innovationspotenzial, das sämtliche heute möglichen Prognosen sprengen würde.
Es ist unstrittig, dass die Rolle der IT in Arbeit und Gesellschaft exponentiell wichtiger wird. Was heute ist, hätte sich vor 10 Jahren keiner vorstellen können (das erste Smartphone, das iPhone 1, wurde 2007 auf den Markt gebracht). Es ist unstrittig, dass ein Großteil der repetitiven und automatischen Arbeiten in die Hände von Computern übergehen werden, gerade unter dem Einfluss der Künstlichen Intelligenz. KI-Systeme werden schon in wenigen Jahren autonom Kraftfahrzeuge steuern, Kreditanträge eigenständig bearbeiten und Zeitungsartikel schreiben - diese Visionen bezweifelt heute niemand mehr ernsthaft (wussten Sie, dass schon heute ein Großteil aller Wettervorhersagen und Börsenberichte von Computern geschrieben werden? Und die meisten davon sind nicht mal mit KI ausgestattet!). Was danach kommt, entzieht sich jeglicher Vorstellungskraft.
Gegenrede: Fremdsprachenunterricht ist DOCH wichtig
Wir befragen zum Thema Hanspeter Hauke, Bildungsexperte, Vorsitzender des ViS, ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen für hochwertige Lernsoftware, mehr als 25 Jahre Tätigkeit beim SWR-Fernsehen im Bereich Wissenschaft und Bildung.
DER LEHRERFREUND: Was halten Sie als ehemaliger Lehrer für Fremdsprachen (Englisch, Französisch) von der Vorstellung, eine Fremdsprache komplett abzuschaffen und stattdessen eine Programmiersprache zu unterrichten?
HANSPETER HAUKE: Schule sollte sich kontinuierlich aktualisieren und gesellschaftliche Entwicklungen in pädagogisch sinnvollen Konzepte umsetzen. Nur so können Kinder und Jugendliche mit dem notwendigen Rüstzeug ausgestattet werden, welches sie in einer sich ständig verändernden Gesellschaft benötigen.
Seit langem wird in der pädagogischen Diskussion ein Mangel an naturwissenschaftlicher Ausbildung beklagt. Vor allem Schülerinnen zeigen auffallend wenig Interesse an IT, Bio, Chemie, Physik und so weiter. Trotz der ganzen Genderdiskussion hat sich meiner Meinung nach nicht viel geändert. Es wäre jedoch viel wichtiger, hier die klassischen Rollenmuster aufzubrechen, als sich an einer Diskussion um Fächer aufzuhängen.
Die Forderung, künftig den Fokus auf das Erlernen einer Programmiersprache statt einer Fremdsprache zu legen, scheint auf den ersten Blick Sinn zu machen. Doch zwischenmenschliche Kommunikation ist nicht mit einer Programmiersprache, sondern nur mit einer gesprochenen Sprache möglich. Und dieser Meinungs-, Wissens- und Erfahrungsaustausch erfolgt zunehmend in Englisch, eine Fremdsprache, die hier gelernt werden muss.
DER LEHRERFREUND: Aber ist es Realität denn nicht so, dass Schüler/innen nach 3 Jahren Französischunterricht gerade mal ein Passé Simple abrufen können – intensive Kommunikation auf Französisch ist doch eher eine Utopie.
HANSPETER HAUKE: Das ist im Prinzip heute noch genauso wie vor 100 Jahren. In den Lehrplänen der modernen Fremdsprachen wird zwar die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit gefordert, gefördert durch den klassischen Fremdsprachenunterricht wird jedoch die linguistische Ausbildung der Kinder und Jugendlichen. Das bedeutet zum Beispiel, dass ich im Zielland die Menschen nicht verstehe, weil ich in der Schule darauf trainiert wurde, Lautketten in Schrift umzuwandeln, also Diktate zu schreiben. Mit diesem Ansatz kann man keiner Unterhaltung, die in normaler Sprechgeschwindigkeit in der Fremdsprache geführt wird, folgen. Die Ineffizienz des Fremdsprachenunterrichts kann jedoch nicht als Argument für seine Abschaffung zugunsten von Programmiersprachen herangezogen werden. Richtig ist vielmehr die Forderung nach einem kommunikations- und anwendungsorientierten Unterricht.
DER LEHRERFREUND: Drehen wir das alles mal um: Wenn der Fremdsprachenunterricht den Menschen auf eine neue kommunikative Stufe hebt, wie Sie implizieren – sollte man dann nicht Wert darauf legen, grundsätzlich in allen Schulformen eine zweite oder gar DRITTE Fremdsprache verpflichtend zu unterrichten?
HANSPETER HAUKE: Versteht man Sprache als Instrument für zwischenmenschlichen Meinungs- und Erfahrungsaustausch, als Vehikel für Wissens- und Kompetenztransfer, dann bedarf es nicht mehrerer Fremdsprachen, die in der Schule gelernt werden. Der Trend geht in den letzten Jahren zu Englisch als weltweit funktionierende Sprache. Das gefällt den spanisch und französisch sprechenden Menschen eher nicht. Sicher auch nicht denen mit Chinesisch oder Russisch als Muttersprache. Doch auch in Japan oder China bin ich mit Englisch ganz gut zurechtgekommen.
Doch Sprache ist nicht nur ein Instrument für Kommunikation. Jede Sprache ist Teil einer Sprachenfamilie mit gemeinsamen und unterschiedlichen kulturellen, gesellschaftlichen, politischen, geschichtlichen Hintergründen. Die intensive Auseinandersetzung und Begegnung mit gesprochener und geschriebener Sprache führt deshalb immer auch zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Lebensentwürfen, Schicksalen oder individuellen Erfahrungen, deren Kenntnis Verständnis für fremde Menschen und Kulturen weckt und so einen wichtigen Baustein für Toleranz und gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit darstellt. Und wer mehr als nur eine Fremdsprache erlernt, erhält ein breitgestreutes Portfolio voller Erkenntnisse und Einsichten in andere Kulturen.
Kompromiss: Nicht »statt«, sondern »und«
Ignorieren wir die Tatsache, dass viele Entscheidungen durch politische Zwänge und menschliche Inkompetenz verhindert werden, so stellt sich in unserem Kontext die Frage, ob wir eine Gesellschaft wollen, die aus Computernerds besteht, die im literarischen und kulturellen Bereich jedoch Analphabeten sind (das einzige, was geht, sind Handbücher zu Programmiersprachen und technischen Systemen); für die Fremdsprachen (außer Englisch, natürlich) und fremde Kulturen einfach nur fremd sind; deren Vorstellung von Gesellschafts-, Politik- und Kulturgeschichte frühestens mit der eigenen Geburt und im eigenen Wohnort beginnt - kurz: Fachidiot/innen. Ein solches Volk will man wahrscheinlich wirklich nicht. Andererseits ist technische Expertise und Innovationskraft unabdingbar.
Im obigen Gedankenspiel sind wir Sochers Aussage gefolgt: »Programmiersprache statt zweiter Fremdsprache« Das ist vielleicht etwas extrem. Aber es gibt auch Mittelwege. Fremdsprache eine Stunde runter, Mathe eine Stunde runter, dafür zwei Stunden IT-Unterricht ab der 6. oder 7. Klasse - das wäre doch vertretbar. Und natürlich bräuchte man kompetente Lehrer/innen. Deren Ausbildung muss jetzt beginnen. Jetzt. Und nicht erst dann, wenn man feststellt, dass die Einwohner/innen der BRD Ovids Elegien lesen, während sämtliche technischen Innovationen in anderen Ländern stattfinden und IT-Dienstleistungen von dort zugekauft werden müssen.