Warum Lehrer/innen anonym bloggen
Anonyme Lehrer: Wir bloggen, wie es uns gefällt 07.12.2014, 22:15
Viele Lehrerblogs werden betrieben, ohne dass Name und Schulort der Betreiber/in der Öffentlichkeit bekannt ist. Das macht die Blogs oft lesenswert, da sie ungefilterte Gedanken und Einblicke in den Unterrichtsalltag zulassen.
Immer mehr Referendar/innen und Lehrer/innen bloggen in der Freizeit über ihren Schulalltag (Übersichtsartikel hierzu: ZEIT.de 20.08.2012: Wenn Lehrer bloggen). Diese Blogs nennen wir "Lehrerblogs" (oder, wenn wir sexistischen Sprachgebrauch vermeiden wollen: "Lehrer/innen-Blogs").
Eine große Zahl der jüngeren Lehrerblogs wird anonym betrieben (vorrangig die von Lehrerinnen). Bei (durchaus seriösen) Blogging-Diensten wie wordpress.com oder blogger.com lässt sich unproblematisch ohne Angabe korrekter bzw. überprüfter Personeninformationen ein Blog betreiben. Solche Blogs haben kein Impressum, die Betreiber/in verschleiert ihre wahre Identität vorsätzlich und systematisch.
Eine anonyme Person, die das Blog Lotta macht Krach betreibt, hat nun ihr Referendariat beendet und steht vor der Frage, wie sie weitermachen soll:
Ich muss zugeben, es reizt mich ein bisschen.
Mein Referendariat ist so gut wie vorbei, die Zeit der permanenten Beobachtung und Bewertung neigt sich dem Ende entgegen. zeit für einen Neustart des Blogs? Unter meinem echten Namen? Urlaubsfotos, auf denen ich demnächst nicht mehr nur von hinten zu sehen bin?Ich bin im Zweispalt. Einerseits stehe ich zu dem, was ich schreibe. Und möchte am liebsten auch mit meinem Namen und meinem Gesicht dazu stehen. [...] Das gilt für Urlaubsfotos genauso wie für Beiträge über meinen Beruf.
Aber beim letzten Punkt wird es kritisch. Ihr anderen Lehrerblogger wisst sicher sofort was ich meine.
Ergänzung 12/2014:
Ein besonders krasses Erlebnis hatte der "vollanonym bloggenden" Herr Scholze im Dezember 2014:
Nicht anonym hat dieser Lehrer beim #EDchatDE (= Twitter-Chat für Lehrer/innen) in reiner, konstruktiver Absicht mitdiskutiert:
Ich berichtete aus meinem Unterricht und über Schüler. Meiner Meinung nach sehr oberflächlich, ich nannte keine Namen und schrieb auch nie schlecht über einen Schüler. Ich machte mir eher allgemein Gedanken über Schüler-Verhalten und wie man als Lehrer damit umgehen konnte.
Schüler/innen von ihm haben dort genannte Schüler/innen teilweise wiedererkannt. Die Schulleitung schaltete sich ein, eine Dienstaufsichtsbeschwerde wurde in Erwägung gezogen - und auch anderweitig drohte die Situation aus dem Ruder zu laufen, z.B.:
In anderen Artikeln sprach ich über Ideen, was man im Unterricht machen könnte, wie man den Unterricht verändern könnte. Dies wurde mir als Kritik am restlichen Kollegium ausgelegt und ich könne froh sein, dass kein andere Kollege es gelesen hätte.
Die Konsequenz des Lehrers: Ab diesem Moment bloggt er anonym unter herrscholze.wordpress.com.
Warum Lehrer/innen anonym bloggen
Man darf alles erzählen
Alle wissen es: Personenbezogene Daten müssen akribisch anonymisiert werden, da man sich sonst schnell in strafrechtlich relevanten Zuständen befindet. Das gilt vor allem für die, die heftig vom Leder ziehen, wie die (inzwischen etwas harmonischer gewordene) Frau Freitag:
Die haben ja wohl echt den Arsch offen.
Die können was erleben. Die mach ich so rund [...]
Na, wie war's in der Schule? 24.11.2010: Geht's noch???
Was mich am meisten nervt ist, dass sie die Kunststunden demonstrativ zum Kaffeekränzchen macht, indem sie sich an ihrem Tisch lautstark über ihr blödes Privatleben unterhält.
Na, wie war's in der Schule? 15.11.2010: Schantalle nervt wieder
Wenn so etwas konkreten Personen zugeordnet werden kann, ist ein Disziplinarverfahren noch die sanfte Variante. Aber auch nette personenbezogene Details fallen unter den Datenschutz: Kein/e Lehrer/in darf in ihrem Blog schreiben, dass die kleine Lisa heute gut mitgearbeitet hat oder der arme Jakob schon wieder wegen seines Nierenleidens nicht am Unterricht teilnehmen konnte. Das geht niemanden etwas an, egal wie nett (gemeint) es ist. Oder wie es Frau A. vom anonymen Blog Der steinige Weg ausdrückt:
Wir engagieren uns ja hier für ne gute Sache für die wir auch mit unserem Namen / Gesicht einstehen wollen. Weil wir nix zu verbergen haben
Aber leider geht’s in Lehrerblogs eben nicht nur um uns, sondern auch um andere – also werde ich wohl auch immer Frau A. bleiben
Kommentar von bambooos zu Raus aus der Anonymität? (18.11.2012, 12.28)
Ebenfalls pikant sind Berichte über intime Details des Verwaltungsapparats. Besagte Lotta berichtet am 13.11.2012 darüber, wie sich Vertreter/innen ihres Studienseminars (quasi ihre Vorgesetzten) völlig danebenbenehmen. So etwas kann natürlich nur aus völliger Anonymität heraus geschehen, wenn man nicht riskieren will, die nächsten Jahre erst mal nur Krankheitsvertretungen im angrenzenden Beispiellingen zu machen (ein Weg 84km Landstraße). Herr Scholze formuliert es so:
Tja, und nun kann ich endlich die Sau rauslassen. Endlich kann ich w-i-r-k-l-i-c-h alles erzählen.
Man darf die Hosen runterlassen
Dann gibt es den Aspekt der Selbstoffenbarung. Viele - auch nicht anonyme - Lehrer/innen haben das Bedürfnis, beim Bloggen von sich, von ihrem Leben zu berichten, über ihre Gefühle, ihre Probleme, ihre Wünsche. Ein schönes Beispiel wieder von Frau Freitag:
Kein Wunder, dass bei mir niemand was lernt. Stehe ich doch nun schon seit über 10 Jahren vor der Tafel und labere und labere. Nie mache ich SOL (Selbstorganisiertes Lernen). Kein Kugellager, kein Fishbowl, keine Schreibgespräche – wie soll man da was lernen?
Na, wie war's in der Schule? 17.10.2012: Mein neues Lehrer-Ich
Können Sie sich eine mit Namen und Ort bekannte Lehrer/in vorstellen, die so etwas öffentlich verkündet? Wenn Eltern, Kolleg/innen oder die Schulleitung solche offenherzig dargelegten Details mitbekommen, dürften die Tage der offenherzigen Lehrer/in an der Schule gezählt sein.
Weiterhin könnte die Beziehung zwischen Schüler/innen und Lehrer/in gestört werden, wenn die Schüler/innen erfahren, dass die Lehrer/in sich bspw. immer unsicher fühlt, wenn sie in diese Klasse geht.
Aber genau diese Punkte sind es, die das Bloggen für die anonymen Lehrer/innen interessant machen: Gerade die Details, die man eben nicht in jeder Zeitung liest, sind oft lesenswert. Für viele anonyme Lehrer-Blogger/innen hat das Bloggen auch einen fast schon therapeutischen Effekt: Sie verarbeiten den Schulstress, indem sie darüber schreiben.
(Man beachte übrigens, dass die pädagogisch-didaktische-bildungspolitische Diskussion fast ausschließlich über nicht anonyme Lehrer/innen-Blogs läuft!)
Man kann sich im Schreiben gehen lassen
Für viele kommt schließlich noch die literarische Dimension ins Spiel, die Möglichkeit, im Blog mit eigenen Texten und Themen zu spielen, sie zu verarbeiten, zu entwickeln:
gerade WEIL du dich von deinen Gedanken tragen lässt und spontan schreibst, was dir durch den Kopf geht bist du eine gute Bloggerin. Ich lese deine Beiträge zumindest gerne und finde sie sehr lebendig. Diese Lebendigkeit würde wohl ein Stück weit verloren gehen wenn du dich auf strikt geplante Einträge halten würdest.
Kommentar von buchstabenchaos zu Raus aus der Anonymität? (18.11.2012, 19.29)
Es ist darüber hinaus kein Geheimnis, dass gerade in anonym geführten Blogs korrekte Rechtschreibung und Zeichensetzung eine eher marginale Rolle spielt, aus welchen Gründen auch immer. Ein/e namentlich bei Schüler/innen, Eltern und Kolleg/innen bekannte Lehrer/in könnte sich das nicht leisten, im eigenen Blog jeden zweiten Konjunktionalsatz ohne Komma zu schreiben und dann im Diktat den großen roten Regen abzulassen.
Pro/Kontra Anonymität in Lehrerblogs
Die Anonymität erlaubt Einblicke in Schulalltag und Lehrerpsyche, die man sonst so nie bekommen würde. Gleichzeitig verlieren die Inhalte aber massiv an Verbindlichkeit: Kommentardiskussionen auf anonymen Blogs verlassen nur selten das Niveau eines emotionalen Kaffeeklatschs - mehr ist ja oft gar nicht gewünscht. Denn wer weiß schon, ob sich hinter der netten Grundschullehrerin Frau Weh (kuschelpaedagogik) nicht ein behaarter Fernfahrer verbirgt, der von irgendwelchen Rastplätzen aus mit seinem Smartphone aus purer Langeweile eine heile Klasse-3b-Welt simuliert?
Anonyme Lehrer/innen-Blogs dürften für Nicht-Lehrer/innen definitiv die interessantere Wahl sein. Wer als Lehrer/in konkrete inhaltliche Anstöße und akademischen Diskurs sucht, der drückt sich eher in den nicht anonymen Sphären herum.
Nur ganz wenigen Lehrer/innen-Blogs gelingt es (gewollt oder nicht), beide Dimensionen zu bedienen. Diesen Spagat wagen und meistern beispielsweise das Blogger-Urviech Thomas Rau (Lehrerzimmer) oder der fast schon zum Medienstar avancierte Jan-Martin Klinge (... ein Halbtagsblog ...).
Unvergessen ist auch das zwar anonyme, nichtsdestotrotz überaus niveauvolle und inspirative Blog niemehrschule, doch ach, es ruht und liegt brach, und wir können ihm nicht einmal mehr danken, dem anonymen Betreiber, denn er war ja anonym.
Selber schuld.