Hellsehen mit einer Lehrerfreundin
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg 2015: Kommentar zu den Aufgaben 2014, ein Prognöschen für 2015 12.03.2015, 15:40
Eine ausführliche, kompetente Analyse der Abitur-Aufgaben Deutsch von 2014 und - wie jedes Jahr - die Prognose: Welche Aufgaben könnten beim Deutsch-Abitur in Baden-Württemberg 2015 drankommen?
Wie lief das erste Auftreten von Agnes, Walter Faber und Georg Danton an den allgemeinbildenden Gymnasien (Deutsch-Abiturthemen Baden-Württemberg ab 2014)? Kurz gefasst: überraschend... und nicht einfach.
Eine Prognose ist seit Einführung der neuen Aufgabentypen (hierzu meine Anmerkungen vom letzten Jahr) in der bisherigen Form obsolet. Nur aus alter Tradition gibt es auch für das Abitur 2015 ein kleines Prognöschen. Für die Ungeduldigen: direkt nach unten zur Prognose springen.
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg 2014: Kommentar zu den Aufgaben
Erstaunlich: Obwohl die Angleichung der Anforderungen im allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasium das Ziel der Aufgabentypenänderung ist, waren nur die Aufgaben I, II und III in beiden Schulformen identisch. Auf Unterschiede bei den Aufgaben IV und V wird in der folgenden Detailbesprechung kurz eingegangen.
Aufgabe I: Interpretation von „Dantons Tod“ sowie Vergleich der Paare Lucile/Camille - Sabeth/Faber - Agnes/Ich-Erzähler
Dass die schwierigste Pflichtlektüre „Dantons Tod“ den Anfang machte, damit hatte an allgemeinbildenden Gymnasien kaum jemand gerechnet, auch meine Glaskugel sah „Agnes“ voraus. 2014 war für die beruflichen Gymnasien schon der zweite Durchlauf mit den neuen Pflichtlektüren, bei ihrem ersten lag ein Ausschnitt aus „Homo Faber“ vor.
Nun also Büchners Drama für alle: Zu interpretieren war das Gespräch Camille - Lucile aus II,3 , an welchem auch Danton kurz beteiligt ist. Seine Verhaftung ist beschlossen, er selbst reagiert „müde“. Lucile sieht jedoch ihren Liebsten schon verloren, Camille versucht sie zu beruhigen.
In der zweiten Teilaufgabe kam ein Vergleich aller drei Pflichtlektüren (der naturgemäß umfangreich ist), aufgehängt an Figuren-Paaren. Verständlich daher das Stöhnen nicht nur der SchülerInnen, sondern auch der LehrerInnen, z.B. Kommentator „TG“:
Meine Kollegen, ich und auch die Schüler schauten ziemlich verdutzt aus der Wäsche, als Danton mit Camille und Lucile drankam:
- die schwerste Lektüre
- Nebenfiguren, die als solche im Unterricht behandelt wurden
- recht kurzer Textauszug mit wenig inhaltlicher Substanz
Als weiterer Kritikpunkt zu ergänzen ist: Es sollten nicht nur drei Figuren, sondern drei Figuren-Paare verglichen werden (macht also sechs Figuren aus allen drei Pflichtlektüren) unter dem Aspekt, welche Bedeutung jeweils die weibliche für die männliche Figur hat. Durch solch umfangreiche Aufgabenstellung vergrault man noch mehr SchülerInnen von der gründlichen Erarbeitung der Pflichtlektüren, schließlich stehen ja vier weitere, ohne deren Kenntnis lösbare Aufgaben zur Wahl.
Aufgabe II: Gedicht-Vergleich, Leitthema Liebeslyrik
Paul Fleming und Heinrich Heine - hurra! Etwas anderes als Moderne! Meine alljährlich wiederholte Klage
Leider erwies sich so das im Unterricht erarbeitete Wissen zu Epochen und ihren typischen Merkmalen, Autoren und Jahreszahlen als praktisch nutzlos.
wurde offenbar erhört.
Für 2015, dann zum letzten Mal „Liebeslyrik vom Barock bis zur Gegenwart“, bleiben also ‚nur‘ noch die Epochen Sturm und Drang, Klassik, Romantik und und... (ich tippe auf #IrgendwasmitGoethe und Romantik).
Ab 2016 heißt das Leitthema „Natur und Mensch in der deutschsprachigen Lyrik vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart“.
Paul Flemings Sonett und Heines ironisches Gedicht boten jedenfalls vielfältige Interpretationsansätze und ließen sich als jeweilige Klage eines Zurückgewiesenen gut vergleichen. Durch den Aspekt ‚Verlust’ war v.a. beim Barockgedicht der Epochenbezug leicht herzustellen.
Aufgabe III: Kurzprosa-Interpretation
Dieser neue Aufgabentyp wird gerne verwechselt mit „Interpretation einer Kurzgeschichte“, sogar von Kollegen ("Das muss ich doch nicht mit euch machen, das kennt ihr seit der 7. Klasse, oder?").
Als ob von Anfang an klar gestellt werden sollte, dass eben nicht ein nettes kurzes Geschichtchen zu interpretieren sei, gab es mit der Parabel „Ein altes Blatt“ von Franz Kafka eine harte Nuss zu knacken. Hier konnte nur glänzen, wer hinter die Fassade blickte und nicht bloß an der Oberfläche kratzte. Kafkas klare, emotionslose Sprache täuscht Einfachheit vor, erfordert jedoch genaues Hinsehen und tief gehende Deutung - was den DeutschlehrerInnen, die jahrelang „Der Prozess“ als Pflichtlektüre unterrichteten, hinlänglich bekannt sein dürfte, den jungen G8-AbiturientInnen sicher kaum.
Aufgabe IV: Essay
Das Erörtern einer knappen These „anhand Ihrer Leseerfahrung“ (welche/r Jugendliche hat die heute noch?) sprach nie viele SchülerInnen an und so ist es nachvollziehbar, dass der Aufgabentyp „Literarische Erörterung“ ebenfalls ersetzt wurde; für das allgemeinbildende Gymnasium neuer erörternder Typ ist nun Essay. Anders als an beruflichen Gymnasien, wo schon seit Jahren im Abitur Essays geschrieben werden, müssen zu den vorgelegten Materialen keine Abstracts verfasst werden - schade eigentlich, denn sie schaffen Klarheit der Gedanken.
An beruflichen Gymnasien war „Macht Musik“ das schön mehrdeutige Thema, an allgemeinbildenden sollte über „Sehnsucht - über die Bedeutung eines Gefühls“ geschrieben werden. Beide Dossiers waren vielfältig und ansprechend, literarisch kreative SchülerInnen konnten hier reiche Anregungen für eher freieres Schreiben finden. Aber warum wurde an beiden Schulformen nicht das selbe Thema mit zugehörigem Dossier benutzt?
Aufgabe V: Texterörterung
In diesem bekannten Aufgabentyp fehlt nun in der zweiten Teilaufgabe die Auswahl zwischen ‚klassischer‘ und adressatenbezogener Erörterung, letztere fiel ersatzlos weg.
Auch hier gab es unterschiedliche Konkretisierungen: An allgemeinbildenden Gymnasien lag ein Kommentar aus der ZEIT zur geplanten EU-Kampagne gegen das Rauchen vor, welcher sich zur allgemeinen Klage über die „Diktatur der Fürsorge“ ausweitet. Die Position des Autors sollte herausgearbeitet und anschließend kritisch beleuchtet werden. Ein ansprechendes Thema, jedoch kein einfacher Text.
An beruflichen Gymnasien lag ein engagiert geschriebener, essayistischer Text zum gewandelten Verhältnis von Arbeit und Spaß vor, ebenfalls aus der ZEIT. Die Aufgabenstellung war hier drei- statt zweiteilig und auch innerhalb der drei Teilaufgaben kleinschrittiger formuliert: Zusätzlich zur Herausarbeitung der Textaussagen sollte die sprachliche Gestaltung beachtet werden; neben einer kritischen Auseinandersetzung sollte anschließend über den Text hinausgehend „Selbstverwirklichung im Arbeitsleben“ erörtert werden.
Hat der Unterschied in diesem Aufgabentyp historische oder didaktische Gründe? Und warum wurde er nicht beseitigt wie bei den anderen Typen auch?
Deutsch-Abitur Baden-Württemberg: ein Prognöschen für 2015
Nur aus alter Tradition ein Abzählen an drei Fingern …:
„Dantons Tod“ war 2014 zu interpretieren, „Homo Faber“ schon 2013 zumindest an beruflichen Gymnasien, also müsste jetzt ein Ausschnitt aus „Agnes“ kommen. Als mögliche Vergleichsaspekte denkbar sind z.B. der Umgang mit Schuld, die Bedeutung des Todes oder auch, inwiefern die Protagonisten ihr Leben versäumen.
Das Leitthema „Liebeslyrik“ wird zum letzten Mal geprüft, Hinweise zur Gedichtauswahl finden sich im Kommentar zu Aufgabe II.
Beim Blick in die Glaskugel fühle ich mich ein bisschen wie Sherlock Holmes in der ersten Episode der modernisierten BBC-Fassung:
Der des Vierfachmordes verdächtige Taxifahrer spielt mit dem Detektiv eine besondere Art „Schach - mit nur einem Zug“ und behauptet: „Ich weiß, wie die Leute denken. Ich weiß, wie die Leute denken, dass ich denke.“
Und wenn du denkst, die denken... könnte es auch ganz anders kommen. Also wie immer alles ohne Gewähr - toitoitoi und viel Erfolg!